Flucht und Vertreibung: Flucht aus Stargard 1945

Aus der Erinnerung erzählt von Dietrich Hoppe, damals 10 Jahre alt:

Es war am 10. Februar 1945. Meine Cousine feierte an diesem Tag ihren 2. oder 3. Geburtstag. Wir, meine Mutter und meine Brüder, besuchten meine Tante und Cousine zu diesem Ehrentag im Seldteweg.

Als es dunkel wurde- es war noch früher Nachmittag- war in einiger Entfernung aber doch sehr deutlich MG- und Geschützfeuer zu hören. Ich konnte aus der Dachluke der Wohnung in Richtung Klützow schauen und sah Feuerschein am Himmel. Ich vermutete, dass die Zuckerfarbrik brante und umkämpft war.

Meine Mutter und ihre Schwester brauchten sich nicht lange beraten und beschlossen, dass wir noch heute versuchen mussten, zu fliehen!

Meine Tante Dora packte schnell einige wenige Habseligkeiten zusammen und wir begaben uns in unsere Wohnung am Langemarckplatz.

Mein Vater war bereits gefallen, Onkel Gerhard befand sich an der Ostfront.

In der Mietwohung Langemarckplatz gegenüber wohnte Eckard Janneck mit seiner Mutter. Eckard war mein bester Spielfreund. Sein Vater war ebenfalls an der Front und besaß in der Vorkriegszeit in der Bahnhostraße einen Fahrradhandel. Meine Mutter konnte Frau Janneck auch zur Flucht überreden.

Danach begab sie sich zu ihren Eltern in die Schmelingsgasse (Berta Groll geb. Rühlow), um dort vom Fluchtplan zu berichten.  Sie verabredeten sich für ein Treffen am Bahnhof. Das sollte spätestens um 22.00 Uhr stattfinden.

Man darf nicht vergessen, dass es seine Zeit dauerte, um vom Seldteweg in den Langemarckplatz zu gelangen und vor dort in die Schmelingsgasse und wieder zurück. Zudem war es extrem kalt.

Kaum zurück wärmte sich Mutti noch etwas auf, packte schnell einige Sachen zusammen und dann gingen wir los. Über die Moltkestraße entlang ging es in Richtung Bahnhof. Wir, das waren: Frau Janneck mit Eckard, meine Tante Dora mit Monika, meine Mutter Gerda mit mir und meinen Brüdern Wolfgang und Eginhard.

Auf halber Strecke klagte mein Freund Eckard, dass er nicht mehr könne. Er und seine Mutter drehten um, gingen wieder zurück in ihre Wohnung. Das war das letzte Mal, dass ich meinen Freund sah. Was aus ihnen wurde? Ich habe es bis heute nicht in Erfahrung bringen können.

Gegen 22.00 Uhr trafen wir am Bahnhof ein. Es konnte keine Mitfahrmöglichkeit ausfindig gemacht werden. Oma Bertha erschien allein. Auf den Stufen in das Bahnhofsgebäude war sie ausgerutscht und hatte sich im Gesicht verletzt. Sie sagte uns, dass sie nicht mitkommen würde. Opa Paul Groll konnte nicht mit, da er in den Volkssturm eingezogen wurde. Ohne ihn wollte sie nicht mit.

Mutti hatte zum Glück Bettwäsche mitgenommen. Wir blieben die ganze Nacht am Bahnhof  und waren durch die Bettwäsche nicht zur Gänze der Kälte ausgesetzt. Warum Mutti keine Papiere/Dokumente mitgenommen hatte, kann ich nicht sagen. Fakt: Wir hatten keine! Aber dafür schleppte sie nebst der Bettwäsche den Portepee-Säbel meines gefallenen Vaters mit sich und einige wenige Bilder, die hier auf der Webseite zu sehen sind.

Den Säbel nahmen ihr später britische Soldaten im Westen ab.

Gegen 05.00 Uhr des 11. Februar 1945 fuhr ein Güterzug in den Bahnhof ein. Bis auf Eginhard gingen wir alle zur Aufsicht und erkundigten uns, ob der Zug Richtung Westen führe oder noch ein anderer Zug mit Richtung Westen zu erwarten sei.

Eginhard blieb – wie geschrieben – beim Gepäck. Hier fing er das Flennen an und machte einen “Kettenhund” (Feldpolizisten) auf sich aufmerksam. Eginhard beklagte sich wohl, dass “seine Mutti weg sei”. Diesen Irrtum konnten wir schnell klären. Es war Glück, dass die Begegnung mit dem Feldpolizisten für uns ohne Folgen blieb. Die Gauleitung hatte auf Befehl aus Berlin die Weisung erteilt, dass die Zivilbevölkerung aus Stargard nicht fliehen darf!

Dort, wo Eginhard auf uns wartete, haben wir 2001 ein Foto gefertigt. Das ist unter den Bildern hier zu sehen (am roten Briefkasten).

Wir bestiegen jedenfalls einen Viehwaggon. Ob mit oder ohne Erlaubis? Ich weiß es nicht mehr. Mit welchem Ziel der Zug den Bahnhof verließ, war uns auch nicht bekannt. Hauptsache Richtung Westen und dies so weit wie möglich!

Über Neubrandenburg ging es nach Schwerin. Kurz vor Schwerin hielt der Zug. Essen und Trinken hatten wir nicht dabei. Mutti und Tante Dora verließen bei dem Halt den Zug, um nach einer Möglichkeit für Wasser zu suchen. Plötzlich setzte sich der Zug aber wieder in Bewegung. Tante Dora gelang es noch auf den fahrenden Zug zu springen. Ich sehe Mutti noch heute, wie sie es nicht schaffte und zurück blieb.

In Schwerin ging es nicht mehr weiter.  Wir alle mussten den Zug verlassen und wurden in der Oper beim Schweriner Schloß einquartiert. Ich fiel sofort in Schlaf und wurde später von Mutti geweckt. Wie sie uns gefunden hat und wie sie überhaupt nach Schwerin gelang, das hat sie mir nie erzählt.

Mit einem Personenzug ging es von Schwerin dann weiter Richtung Westen. Kurz vor Hamburg hielt der Zug wegen eines Luftangriffs auf die Stadt. Danach ging es weiter nach Bremervörde-Zeven-Gyhum. Letztlich landeten wir in Hesedorf und wurden auf dem Hof Volkmann aufgenommen.

In Hesedorf stromerte ich viel durch die Wiesen und Felder. Am 21.04.1945 konnte ich meinen “2. Geburtstag” feiern. Sah ich doch einen Munitionszug der Wehrmacht zwischen den Bäumen. Er wurde von britischen Tieffliegern angegriffen und zerschossen. Dabei wurde ich durch Splitter des explodierenden Zuges getroffen und zum Glück nur leicht an den Beinen verwundet. Narben blieben aber für immer sichtbar. Ende der 40er Jahre lernte ich dann in Hesedorf Müller und wechselt 1954 zum Bundesgrenzschutz.

Mein Oma Bertha Groll, geb. Rühlow, hat dann kurze Zeit später doch noch Stargard verlassen können. Opa Paul – im Volkssturm – blieb zurück. Ich weiß nicht wie und wann – aber irgendwie landete Oma Bertha auch in Hesedorf. Opa Paul ist danach in unseren Keller am Langemarckplatz und hat sich mein zurückgelassenes Fahrrad geholt. Auf den Volkssturm “pfiff” er – zum Glück-. Wie ich später erfuhr gelang ihm so die Flucht, wo er in Altentreptow strandete. Dort fand er Arbeit in einem Getreidesilo. Meine Oma konnte ihn über den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes ausfindig machen und zog zu ihm nach Altentreptow. Die Freude über das Wiedersehen hielt aber nicht lange an. 1954 verstarb mein Opa an einem Herzinfarkt und Oma Bertha kam wieder nach Hesedorf. Meinen Opa Paul Groll sah ich selber aber nach 1945 bis zu seinem Tod nie wieder.

Wo alle anderen Familienmitglieder gebleiben sind, habe ich erst sehr, sehr viel später erfahren. Dass sie in der späteren DDR lebten, hatte ich über Oma noch erfahren. Durch meine Tätigkeit beim Bundesgrenzschutz war mir allerdings jeglicher Kontakt zur “Ostverwandtschaft” untersagt, so wie auch diesen zur “Westverwandtschaft”. Zumal auch dort Familienangehörige zwischenzeitlich ihren Dienst in der Nationalen Volksarmee versahen.

56 Jahre mussten vergehen, bis ich Stargard erstmals wieder besuchen konnte.

1944 war ich letztmalig in Dolgen und konnte den Bauerhof meiner anderen Großeltern und den Ursprungsort der Familie Hoppe nach 72 Jahren erstmalig wieder besuchen. Auch meineOnkels und tanten sah ich letztmalig in 1943/1944!

Kontakte zu meinen Tanten und Onkels und weiteren Familienangehörigen aus der DDR kam nach Fall des eisernen Vorhanges nicht zu Stande. Die Zeit hatte ihren Keil vorangetrieben und ein Anknüpfen an alte Zusammengehörigkeit war nicht mehr herstellbar.

Vertreibung aus Dolgen

2021 habe ich im Rahmen meiner Ahnenforschung meine Tante 2. Grades finden und mit ihr telefonisch in Kontakt treten können. Tante Inge ist Jahrgang 1933 – also ein Jahr älter als mein Vater.

Geboren wurde sie in Dolgen und und erzählte mir, wie es ihnen nach Kriegsende in Dolgen erging.

Während mein Vater mit Familie im Februar 1945 von jetzt auf gleich aus Stargard flüchtete, verblieb der Familienverbund aus und in Dolgen davon ohne Nachricht und Kenntnis. Dafür gab es einfach keine Möglichkeit mehr.

Aus der Erinnerung erzählt von Ingetraut Hoppe und vom Webseitenbetreiber wiedergegeben:

Die “Dolgener” erlebten das Kriegsende durch Einmarsch polnischer Streitkräfte unter dem Banner der Roten Armee.

Nach Kriegsende herrschte sehr große Unsicherheit über das, wie es weitergehen würde.

Diese Unsicherheit, gepaart mit der Ungewißheit über den Verbleib von Familienangehörigen aus Stargard und Falkenburg, fand Anfang Dezember 1945 ein plötzliches und teilweises Ende.

Bei weit über minus 10 Grad Kälte wurden sie von polnischen Soldaten mit aufgepfanztem Bajonett morgens um 6 Uhr aus den Häusern getrieben.

Mit nichts weiter bekleidet als der Nachtwäsche. Aber selbst die Nachtwäsche und das Schuhwerk  mussten bis auf die Unterwäsche und Socken ausgezogen werden.

Nachdem die ganze restliche deutsche Dorfbevölkerung zusammengetrieben wurde ging es bei der Kälte zu Fuß nach Dramburg zum Bahnhof. Hier wurden sie in Viehwaggons gesperrt und nach Westen transportiert.

Sie landeten dann im Nordwesten Berlins, in Brandenburg und damit im späteren Staatsgebiet der DDR.

Die Grabstätten der deutschen Bevölkerung auf dem Friedhof in Dolgen war wohl noch bis in die Mitte der 80er Jahre vorhanden. Diese Grabstätten wurde dann aber doch zerstört. Nicht einfach eingeebnet und neu angelegt, sondern die Grabsteine einfach zerschlagen und sich selbst überlassen.